Markus Klingelhöfer
4. Juli 2024
Wie Ihr spätestens seit unserer News vom Mai '23 wisst, schreiben wir für das quartalsweise erscheinende Onlinemagazin welcome design friends: P//REVIEW. In unserer Rubrik IDENTITY OF OBJECTS philosophieren wir über Marken – aus Überzeugung, mit viel Bauch- und wenig Zahlengefühl.
Hier könnt ihr unsere bisherigen Artikel nochmal nachlesen.
Über das Japanische an Japan.
Oh, „Japan“. kaum hört man dieses Wort, gehen tausend Bilder auf: Kirschblüten und Geishas, Samurai und Sumoringer, Ikigai, Teezeremonie und Sushi, Papierwände, Fuji (Berg) und Fuji (Film), Zen-Gärten und Bonsai-Bäume, Megacity Tokyo, Menschenmassen und Quetsch-Ubahn, Atombombe und Atomunfall, Pokemon, Manga, Matcha und Cosplay, Glanz, Glas und Hightech, sprechende Toilettenspülungen …
Auch wenn wahrscheinlich die meisten von uns noch nie dort waren, sind unsere Köpfe voll von Bildern, die sich aus Medienberichten, Fotos und Phantasie zusammensetzen - und so die „Marke Japan“ bilden: Eine Vorstellungswelt, mit tausend Assoziationen und Ideen, einem Image.
Und wenn man dann erstmal da ist – (bei mir 2017) Ernüchterung: Statt Glanz und Glas eher so … normal. Statt High-Tech eher schon leicht beige gewordene 90’s-Tech. Viel mehr Jeansträger als Geishas und Cosplayers, meistens Platz in den U-Bahnen, keine Schneehaube auf dem Fuji, Teezeremonien als Touristenshows. Und keine weisen Zen-Meister auf den Straßen, sondern Normalos wie du und ich.
Japan war gar nicht so japanisch, wie ich eigentlich dachte. Aber Japan war dann doch irgendwie japanisch … anders japanisch.
Das, was ich (für mich) damals als japanisch entdeckte, war die Wertschätzung für Details. Eine achtsame, fast zeremonielle Zuwendung gegenüber Dingen, die kaum von nachhaltiger Bedeutung zu sein scheinen.
POV: Ein durchschnittlicher, in der Regel wenig begeisterungsfähiger Deutscher kauft in Japan Gebäck ein und ist ehrlich überrascht ob der Hingabe, mit der die Transaktion eines profanen Kekses vollzogen wird: die fast zärtliche Berührung des Objektes mit der Greifzange, das kunstvolle Verpacken in Seidenpapier und Plastiktüte, die kleine Verbeugung beim Überreichen (mit beiden Händen!) des Gebäckstücks.
Für uns europäische Marketing-Opfer braucht dieser Kulturschock natürlich einen schicken japanischen Begriff, den man auf einen Lebensratgeber für gestresste Manager drucken kann: Kodawari. Ein integrales Konzept der japanischen Wabi-Sabi-Philosophie, die die Schönheit des Einfachen und Vergänglichen zelebriert, die Perfektion der Imperfektion – oder so ähnlich. Marie Kondo könnte das sicher besser erklären.
Worauf ich hinaus möchte: In Japan war ich erstaunt, wie viel Wert auf die vermeintlich kleinen Details und unwichtigen Dinge gelegt wird. Ob ich einen Bleistift erwarb oder einen Tee bestellte. Immer wurde alles sorgfältig arrangiert, überall wurden Schleifen gebunden und ständig hat man sich verbeugt oder zumindest den Kopf geneigt – vor der Tasse, vor der Tüte, vor mir.
Was mich armen Thor am meisten daran verwunderte, war, dass diese Wertschätzung in keinem Zusammenhang zum (Einkaufs-)wert der Dinge stand, sondern „ohne Grund“ geschah. Diese Art der Wertschätzung kennen zu lernen, war sozusagen mein Souvenir aus Japan.
Diese Art der Wertschätzung ist etwas, das wir hier in Mitteleuropa manchmal verloren haben. In Deutschland, wo spätestens mit der Industrialisierung die Romantiker zu Ingenieuren wurden, sowieso. Den Wert einer Maschine kann man genauestens berechnen, den Wert von Ästhetik und Wohlbefinden hingegen kaum.
Deswegen neigen wir dazu, Dinge und Leistungen, deren Wert man nicht gut quantifizieren kann, zu übergehen oder kleinzurechnen. Freundlichkeit, Service-Orientierung, Zeit, Expertise … alles geschenkt. Das Drumherum setzen wir voraus, solange es nix kostet. Nicht umsonst wurde das Prinzip „Discounter“ in Deutschland erfunden. Seit Jahren versuchen Unternehmen in Employer-Branding-Kampagnen ihren Mitarbeitern zu erzählen, dass Geld doch nicht alles sei – gleichzeitig wird das eigene Produkt aber permanent auf Effizienz getrimmt, jeder Schnickschnack entfernt, jeder Cent eingespart.
Und hier lande ich als Markenexperte bei dem Titel unserer Rubrik. Denn wir Macher und Gestalter sind es, die immer noch die Deutungshoheit über eben die Identität und den Wert unserer Erzeugnisse haben sollten. Erkennen wir selbst den ideellen Wert hinter unseren Leistungen nicht, können wir ihn auch nicht verkaufen und dürfen uns nicht beschweren, wenn man uns dafür nicht entlohnen möchte.
Vielleicht müssen wir es nicht ganz so religiös-philosphisch halten wie die Japaner mit ihrem Wabi-Sabi. Aber wenn wir uns und unseren Angeboten mehr Wertschätzung schenken, werden dies auch unserer Kunden tun.
Wir können den Dingen, die hinter unseren Leistungen stehen, den Köpfen und den Händen, die sie geformt haben, mehr achten, indem wir mit Stolz ihre Geschichte(n) erzählen. Und zwar nicht die Marketinggeschichten von „Hallo Frau Sommer, Hallo Herr Kaiser“, auch nicht die Feature-Geschichten von „jetzt 2x mehr Gigahertz pro Nanometer“ und erst recht nicht die pseudo Nachhaltigkeitsgeschichten von „im Jahr 2070 streben wir an klimaneutral zu sein“. Nein, die wahren Geschichten. Die kleinen Ereignisse, Erfolge, Probleme, Lösungen. Die echten Menschen, die echten Gedanken.
Erst wenn wir selbst das, was wir tun, achten und würdigen, sind wir auch in der Lage, die Dinge richtig zu reflektieren. Denn nur so lernen und erkennen wir doch überhaupt, was wir gerade tun, was daran gut ist und worin ggf. noch die Imperfektion liegt. Nur so machen wir die nötigen Räume auf, Neues zu erschaffen. Das ist eigentlich gelebtes Innovationsmanagement.
Und wahrscheinlich ist Japan auch genau deswegen das Land, das Tradition und Moderne wie kein zweites Land verbindet. Und immer eine Reise wert.
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