top of page

P//REVIEW: Unser Beitrag zur Ausgabe "Schnee"

Markus Klingelhöfer

8. Aug. 2024

Wie Ihr spätestens seit unserer News vom Mai '23 wisst, schreiben wir für das quartalsweise erscheinende Onlinemagazin welcome design friends: P//REVIEW. In unserer Rubrik IDENTITY OF OBJECTS philosophieren wir über Marken – aus Überzeugung, mit viel Bauch- und wenig Zahlengefühl.

Hier könnt ihr unsere bisherigen Artikel nochmal nachlesen.


Über Schnee von gestern.


Die Schneeglöckchen sind bereits verblüht, die Krokusse zertreten, die Magnolien erstrahlen in ihrer unnachahmlichen Blütenpracht. Sicher, die Winterreifen sollte man nicht vor Ostern wechseln; es könnte ja noch mal Schnee geben... Aber doch ist nach diesem zwar verregneten, aber doch sehr frühlingshaften Februar der Sommer näher als der Winter. Womit wir beim Thema wären: dem Schnee von gestern. 

Wieder mal war dies ein Winter, der seinen Namen nicht verdient hat. So wie die Winter davor.   … Ach, … wann wird es mal wieder richtig Winter? Ja, der liebe Rudi Carrell … Zu seinen Zeiten konnte man noch guten Gewissens an Ostern einen Ski-Urlaub und in Griechenland seine Sommerferien planen. Ökologisch gesehen zunehmend ein No-Go, ist das jetzt alles eh zu warm, aber zum Glück bald sowieso nicht mehr bezahlbar für Normalsterbliche. Immerhin müssen wir unser schwaches Gewissen dann nicht mehr damit belasten, dass unser Egoismus mal wieder stärker war als unser Verantwortungsgefühl für die Welt.

Aber nicht nur Ski-Urlaub oder Sommerferien am Mittelmeer werden in die Folklore dieser kurzen Episode der Menschheitsgeschichte eingehen. Beim Versuch eine Zukunft abzuwenden, in der hier wahlweise Dürre oder 365 Tage Dauerregen herrschen sollen, verschwinden Stück für Stück Artefakte unserer gesellschaftlichen Identität. All die unvernünftigen Dinge, die nicht kompostierbar sind und Angewohnheiten, die nicht zu einer besseren Welt oder mindestens einem besseren Selbst beitragen, verbannen wir nach und nach aus unserem Leben. Die gute alte Ordnung, mit der wir aufgewachsen sind, die Überwindung des Kalten Krieges, der Glaube an Wachstum und Wohlstand, der immerhin fast ein halbes Jahrhundert überdauert hat – das alles ist irgendwie Schnee von gestern.

Ja, ehrlich gesagt trauern wir ein wenig um diese Objekte und Wahrheiten, die leise aus unserem Alltag verschwinden: Den Ski-Sarg, den unsere Väter murrend vollstopften, die Super-Staus, wenn man doch zu spät aufgebrochen war, die zu engen Ski-Schuhe, Nachtisch als Hauptspeise zum Mittagessen, die verschwitzten nackigen Engländer in «Stanton», die Strohhalme, aus denen wir Aperol schlürften. Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen und um die Erinnerungen an süßklebrige Sommerferien voller Langnese-Eis und Sangria ergänzen. 

Denn, sind wir mal ehrlich, selten ist der Ersatz so gut wie das Original. Und oft sind es die kleinen Entscheidungen, die sich im Nachhinein als folgenschwer erweisen. Mit dem Beschluss bei Strohhalmen auf nachhaltige Materialien zu gehen, hat man uns für immer des Erlebnisses beraubt, den unverfälschten Geschmack eines wie auch immer gearteten möglichst ungesunden Erfrischungsgetränks, ob mit zu viel Zucker, Sahne oder Alkohol – egal – genüsslich erschlürfen und beblubbern zu dürfen. Ja, dann können wir auch gleich Wasser trinken. Aus dem Hahn abgefüllt in unsere coolen neuen Feldflaschen. Und genauso schmeckt diese Umstellung dann auch: fad und blechern. Etwas einsilbig, wie einst die ersten Reformhäuser.

1988 durfte Tom Cruise in «Cocktail» noch voller Bewunderung über den Erfinder der Cocktail-Schirmchen (noch so eine bunte Kindheitserinnerung!) sinnieren und dass dieser damit wohl zum Millionär geworden ist. Das waren die Lebensträume, mit denen wir damals aufgewachsen sind. Wenn man eine gute Idee hatte, konnte man sie einfach umsetzen, ohne an irgendwelche Konsequenzen denken zu müssen. Ob das das Erfinden von Cocktail-Palmen war oder den Reichstag mit Tonnen von Kunststoff einzuhüllen. Wenn es doch nicht zum erfolgreichen Kapitalisten oder Künstler gereicht hatte, dann konnte man zumindest bei der Sparkasse um die Ecke bis zur Rente arbeiten, immer ein bisschen zu viel rotes Fleisch essen, Alkohol trinken und rauchen, um irgendwann wohlverdient irgendeiner Zivilisationskrankheit zu erliegen. Jetzt gibt es immer weniger Bank-Filialen, Service macht bald sowieso nur noch die KI, das Rauchen haben wir längst aufgegeben, rotes Fleisch ist voll ungesund und bald ist sogar der Krebs Schnee von gestern. Was machen wir mit all der Gesundheit, wenn wir dann nicht mal mehr einen Job oder Urlaub haben? Und das in einer Zukunft, die nach Krise, Krieg und Klima-Katastrophe riecht?

Was Schnee von gestern ist und bleiben sollte, diese Einschätzung fällt zunächst nicht schwer. Die Gefühle dazu sind trotzdem ambivalent. Denn alles, was nicht mehr ist, fehlt erst mal – egal, ob es nun gut war oder nicht. Und weil Zukunft immer noch nur bedingt vorhersehbar ist, mischt sich dazu eine unerträgliche Unsicherheit. Für diesen Aggregatzustand der Schwebe und fehlenden Kategorien sind wir Menschen nicht gemacht. So wie es in den meisten unserer Gehirne nicht angelegt ist, sich die Unendlichkeit des Universums vorzustellen. Das erklärt vielleicht den Anstieg der Verzweiflung um uns herum, die mentale Erschöpfung, die uns alle seit geraumer Zeit begleitet. Denn unsere Welt zerfällt gerade, um zu einer neuen zu werden. 

Bleibt die Frage, ob es in dieser wieder schneereiche Winter gibt?

Vielleicht. Aber sicherlich nur dann, wenn wir nicht verzagen. Wenn wir uns auch gesellschaftlich gemäß dem Mantra der Selbstoptimierung verhalten, dass man die Dinge aussetzen sollte, die mittelfristig zu einer Verschlechterung des Gesamtzustandes führen werden. Wir sollten wieder ein bisschen mehr Hoffnung zulassen, statt uns in Resignation zu verlieren. Mit dem, was wir tagtäglich tun wieder mehr positive Zuversicht verbreiten als fortwährend zu nörgeln und die Umstände zu bedauern. So wie die ersten Frühblüher – gänzlich unbeeindruckt von der Qualität des vorangegangen Winters – den nahenden Sommer verkünden, auch wenn man ihn im Grau des Februars noch nicht fühlen kann.

Wahrheiten ändern sich, das ist das Prinzip der Evolution. Aber diese eine universelle Wahrheit bleibt: Auf die Nacht folgt immer ein neuer Tag. Und egal wie dunkel die Zeit uns jetzt gerade erscheinen mag und auch wenn es noch ein wenig dunkler werden könnte; es werden auch wieder andere Zeiten kommen und diese werden auch ihre Vorzüge haben, ihre eigenen Objekte und Identitätskonzepte ausbilden. Erhobenen Hauptes nach vorn zu blicken, weiterzumachen und uns auszuprobieren ist der einzige Weg, den wir gehen können. Ob das, was folgt und was wir erreichen, dann besser wird oder nicht, das bewertet eh das Evolutionsprinzip. Denn alles ist vergänglich und im Fluss, geht von einem Zustand über in einen nächsten, so wie Schnee zu Wasser und Wolken wird. Wir Menschen würden gut daran tun, in unseren Erwartungen und Gewohnheiten genauso flexibel zu werden. Damit wir nicht als Plastikstrohhalme der Weltgeschichte enden.


Und wenn Ihr Lust auf mehr habt: Die spry Markenkolumne in den vollständigen Ausgaben mit News rund um Menschen und Marken aus Produkt- und Interiordesign, Möbel und Architektur.

 

bottom of page