Markus Klingelhöfer
2. Mai 2024
Wie Ihr spätestens seit unserer News vom Mai '23 wisst, schreiben wir für das quartalsweise erscheinende Onlinemagazin welcome design friends: P//REVIEW. In unserer Rubrik IDENTITY OF OBJECTS philosophieren wir über Marken – aus Überzeugung, mit viel Bauch- und wenig Zahlengefühl.
Hier könnt ihr unsere bisherigen Artikel nochmal nachlesen.
Über Vanille als Lifestyle
Als Markenmenschen beschäftigen wir uns mit Identitäten von Unternehmen und der Frage, was daran identitätsstiftend sein kann für den Menschen – ob als Mitarbeiter oder als Kunde. Daher müssen wir bei dem Thema Vanille auf eine aktuelle Identitätskrise der modernen westlichen Frau zu sprechen kommen. Manifestiert im Vanilla Girl.
Das Vanilla Girl pflegt seinen Körper, seinen Geist und das Heim für seine Lieben. Mit Yoga, Pilates und sanfter, plant-based Bodylotion. Mit achtsamen Ratgebern und klugen Pinterest-Lebensweisheiten. Mit runden Boucle Sesseln in off-white und viel viel Pampasgras. Körper, Geist und Heim – alles in Harmonie, alles im Einklang, keine Störgeräusche.
Ein ätherisches Wesen, das überwiegend auf den gängigen Social Media Plattformen anzutreffen ist, selten aber im echten Leben. Weil eben dieses den Reinheitsgrad, den das Vanilla Girl sucht, selten zulässt, sondern eher der Grund für diese Flucht in eine Welt des Ton in Ton ist.
Das Vanilla Girl – es ist ein Kind (oder Opfer) seiner Zeit.
Krieg, Inflation, Tante Hilde’s 60. Geburtstag. Und eine Explosion an neuen Ideen und Produkten – getrieben durch die Digitalisierung unseres Lebens. Früher gab es drei Fernsehsender, heute sind es hunderte. Und dann muss man auf Netflix und Disney+ auch noch up-to-date bleiben … Das DPMA meldet 85.000 Markenanmeldungen pro Jahr, laut Handelsblatt erreichen uns 13.000 Werbebotschaften pro Tag, Asos entwickelt 4.500 neue Produkte – pro Woche!
In dieser “modernen” Welt gilt es, seine Rolle(n) als „moderne“ Frau zu erfüllen: auf ewig jung aussehen, gesund bleiben, beruflich erfolgreich sein, eine fürsorgliche Mutter, eine leidenschaftliche Köchin und liebende Ehefrau. Das Vanilla Girl ist das neue Status[Ga1] symbol des Neo-Konservatismus (böse Zungen behaupten sogar des Neo-Rassismus) … der Rückzug in das Bekannte, die heimelige Welt der eigenen vier Wände. Das Leben hinter dem Tellerrand.
Warum finden wir das attraktiv?
In einer Umwelt, die uns jeden Tag visuell, intellektuell und inhaltlich überfordert, brauchen der Mensch und sein Hirn auch mal Ruhe, Klarheit, Einfachheit. Dazu kommt der enorme soziale Druck: Bloß nichts mehr falsch machen, denn das Web sieht alles und es droht der Shitstorm. Nein, besser gleich allen auf Insta zeigen, dass man alles richtig macht. Nicht anecken im Mainstream.
Und weil wir alle so überfordert und orientierungslos sind, orientieren wir Herdentiere uns am besten an Influencern, die sich selbst an anderen Influencern orientieren – so macht man nichts falsch und gleichzeitig die Orientierungslosigkeit zum Massenphänomen und Trend.
Ein Trend, auf den viele Scandi-Interior Design Marken wie Ferm Living und Oyoy und Co seit Jahren erfolgreich bedienen. Und im Umfeld der Kindererziehung zwischen beige-pastelligen Musselin-Kleidchen und bis ins letzte Detail farblich abgestimmten Kinderzimmern hat dieser Drang der Vanilla Girls, eine Kontrolle über die Entwicklung der Dinge – zumindest im Kleinen – zu bekommen sogar schon einen Namen bekommen: Sad Beigeness. Klingt wie ein neuer Song von The National.
OK, es hat eine gewisse Ästhetik. Ja, es beruhigt die Nerven in einer anstrengenden Zeit.
Und das Kinderzimmer wirkt natürlich und nachhaltig neben all dem billigen Plastik … obwohl es außerhalb von Instagram dann trotzdem noch bunt und unaufgeräumt ist: Voller pinker Glitzereinhörner, Lego Star-Wars-Umbauten und der Steinsammlung des letzten Spaziergangs. Das neue beige Accessoire schafft dem Vanilla Girl ein gutes Gefühl – wenn auch nur flüchtig.
Der Mensch sucht schon immer die Realitätsflucht. Und Marken sind das perfekte Vehikel dafür. Marken entführen in neue Welten – auch wenn man mit dem 300PS Sportwagen nur im Stau steht. Oder mit der High-Tech Outdoorjacke nur zum Bäcker geht. Denn Marken erfüllen Träume, weil sie für viel mehr stehen als ein Produktnutzen.
Eine Marke mit den richtigen Träumen, mit der richtigen Phantasie aufzuladen, ist die große Herausforderung für ein Unternehmen. Denn dazu muss man vom rationalen Nutzen seines Produkts abstrahieren und verstehen, dass es viel mehr beim Kunden bewirkt. So wie das beige Kinderzimmer eben nicht nur ein praktischer Wohnort für den Nachwuchs ist, sondern eine Oase der Ruhe und des Wohlbefindens für die Vanilla Mum (und den Vanilla Dad) und der Instagrammable-Beweis dafür, dass man alles im Griff hat.
Erfolgreiche Marken erkennen das schnell und springen rechtzeitig auf den Trend auf. Aber nur richtig starke Marken hingegen orientieren sich beständig am Menschen, stellen das Kundenbedürfnis vollständig in ihren Mittelpunkt und kreieren ihre Produkte um den Kunden und seine Welt herum. Das Vanilla Girl mag ein Phänomen unserer Zeit sein, ihr Grundmotiv „sichere Höhle in schwierigen Zeiten“ ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst.
Und wenn Ihr Lust auf mehr habt: Die spry Markenkolumne in den vollständigen Ausgaben mit News rund um Menschen und Marken aus Produkt- und Interiordesign, Möbel und Architektur.